Die Overbecks – neu sortiert | Werke von Ulrike Brockmann und von Fritz und Hermine Overbeck im Overbeck-Museum


Die Overbecks – neu sortiert. So waren die Bilder von Fritz und Hermine Overbeck noch nie zu sehen: Die Künstlerin Ulrike Brockmann hat ausgewählte Gemälde des Worpsweder Künstlerpaares zur Grundlage eigener Kunstwerke gemacht. Abbildungen der Originalgemälde aus der Zeit um 1900 bearbeitete sie mittels einer eigens entwickelten Software, zerlegte sie in ihre Farbwerte und ordnete diese, nach der Häufigkeit ihres Vorkommens sortiert, neu an. Durch behutsame künstlerische Eingriffe in Kontrast und Binnendifferenzierung entstanden eigenständige, ungegenständliche Kunstwerke, die sich vom zugrundeliegenden Motiv vollkommen lösen und Stimmung allein über die Farbigkeit evozieren. Die freie, experimentelle Herangehensweise führt dazu, dass man anschließend auch die mehr als 100 Jahre alten Gemälde von Fritz und Hermine Overbeck mit neuen Augen sieht.

Dr. Katja Pourshirazi

Farbe in Trennung und Begegnung – Katja Pourshirazi


Die Gemälde von Ulrike Brockmann sind nur scheinbar leicht, in Wirklichkeit aber unendlich schwer zu beschreiben. Die klar gegliederten Farbflächen scheinen sich auf den ersten Blick gut benennen zu lassen: Ein Quadrat ist zu mehr als drei Vierteln mit einem rötlichen Schwarz gefüllt, am unteren Bildrand liegt ein präzise abgegrenzter türkiser Streifen. Aber schon der zweite Blick macht deutlich: Diese einfache Beschreibung trifft es nicht. Wie lässt sich in Worte fassen, dass das Rötliche an manchen Stellen stärker zutage tritt als an anderen? Und ist das Schwarz nicht überhaupt eher ein Violett? Wie beschreibt man die Leuchtkraft des Türkis, wie die Breite des Streifens, wie das Verhältnis der Farben zueinander? Und welche Formulierung könnte jemals präzise die Wirkung benennen, die das alles auf mich als Betrachterin hat?


Wahrnehmung ist ein sehr persönlicher, emotionaler und intimer Prozess. Worte können uns dabei nur auf den ersten Schritten begleiten. Schauen wir länger hin und lassen uns ein, lassen wir uns vom Sehen erfassen und berühren, dann versagen die Worte den Dienst. Sprachliche Begriffe bieten auf einmal keine ausreichende Entsprechung mehr für das, was unsere Augen doch so unverkennbar sehen, und was wir dabei unzweifelhaft fühlen.


„Ästhetische Erkenntnis beginnt da, wo der Verstand an seine Grenze stößt“1, schreibt die Dichterin Marion Poschmann. Das ist ungewohnt für uns, die wir zu glauben gelernt haben, dass allein der Verstand Erkenntnis ermöglicht. Wir müssen erst wieder lernen, unserer Wahrnehmung zu vertrauen, auch über die Grenzen des Verstandes hinaus. Dabei hilft uns die ungegenständliche Kunst. Hier können wir keine Ausflüchte suchen in Sätzen wie: „Ich sehe drei Äpfel in einer Schale“ oder „Ich sehe eine herbstliche Landschaft“. Das Ungegenständliche verweigert derlei Zuordnungen und gibt unserem Sehen damit seine Unvoreingenommenheit, seine Freiheit zurück.
„Es geht darum, einmal vor die Bilder und deren Existenz zu treten, mit unvoreingenommenen Augen“2, schreibt der Philosoph Emanuele Coccia. Genau dazu laden die Bilder von Ulrike Brockmann ein. In ihrer Reduktion auf Farbe, Stofflichkeit und klare, regelmäßige Formen ermöglichen sie eine konzentrierte Betrachtung, die sich gerade bei den kleinformatigen Papierarbeiten zur Intimität steigert. Die einheitliche Farbigkeit lenkt hier die Aufmerksamkeit noch auf kleinste Abweichungen der Farbnuancen. Man will diesen Bildern nah sein – um sie genauer betrachten zu können, aber auch, um an ihrer subtilen Bewegtheit teilhaben zu können.


Die Farben in Ulrike Brockmanns Bildern sind zwar losgelöst vom gegenständlichen Motiv, zeigen sich aber im Prozess der Bildwerdung umso stärker in ihrer Materialität. In zahllosen Lasuren übereinandergelegt, baut sich jede der am Ende sichtbaren Farben aus anderen auf, überdeckt, lässt durchscheinen, intensiviert oder nimmt zurück. Die Oberfläche trägt Spuren der Bearbeitung mit Spachteln und Händen, lässt kleine Unebenheiten zu, macht das Material sichtbar, das hier als Farbträger fungiert. Behutsam, aber auch mit Kraft und Druck werden die großen Leinwände bearbeitet. Es ist eine fühlbar körperliche Begegnung: Der Körper der Künstlerin wirkt auf den Körper der Leinwand und den Körper der formbaren Farbmasse ein, geduldig, nachdrücklich, so lange bis sich die Farbe in der gewünschten Weise, der richtigen Nuance materialisiert. 


Es ist ein sinnlicher Prozess, der sich nicht auf das reine Sehen beschränkt. Beim Betrachten der Bilder spürt man unwillkürlich, dass auch der Tastsinn, das Riechen und selbst das Hören Anteil haben an der Hervorbringung der Farben. Deswegen erreicht auch uns als Betrachtende die Wirkung dieser Farben nicht allein über die Augen, sondern scheinbar mit allen Sinnen. Fast glauben wir, die Farbe in Ulrike Brockmanns Bildern an unseren Fingerspitzen spüren zu können.


Der Werkzyklus „Sortiertes Sehen“ bildet einen Gegenpol zu diesem körperlichen Umgang mit Farbe in der Malerei: Mithilfe eines eigens dafür entwickelten Computerprogramms zerlegt Ulrike Brockmann Fotografien in ihre Farbwerte und sortiert diese Farbwerte nach der Häufigkeit ihres Vorkommens, von oben nach unten absteigend, in horizontalen Streifen. Das Computerprogramm lässt, einmal gestartet, keine Eingriffe mehr zu. Jede künstlerische Gestaltung muss also vorher stattfinden, in der Wahl des Ausschnitts, in einer Intensivierung der Farben oder Schärfung der Kontraste. Entspricht das Ergebnis nicht den Vorstellungen der Künstlerin, geht es zurück an den Anfang: Wie genau muss die Fotografie beschaffen sein, bevor sie in das Programm eingespeist wird, damit das nach Farben zerlegte Kunstwerk die richtige Wirkung entfaltet? Hinter jedem Bild dieser Serie stehen dutzende, manchmal hunderte weitere, die verworfen wurden, bis das Ergebnis den Ansprüchen der Künstlerin genügte.


Ein Bild in Pixel zu zerlegen und nach Farben sortiert wieder zusammenzusetzen, ist keine Spielerei. Im Gegenteil: Mit dieser Vorgehensweise stellt Ulrike Brockmann die berechtigte und existenzielle Frage nach den Wahrnehmungsmustern, die unser Wirklichkeitsverständnis prägen. Wie zeigt sich uns die Welt? Wie nehmen wir sie wahr? Und könnte nicht alles auch ganz anders sein? Wer wären wir, wie sähe unser Leben aus, wenn es uns gelänge, die Welt mit anderen Augen zu sehen?


Unsere Sinneseindrücke sind verantwortlich für unser Verhältnis zur Welt. Mit allem, was wir tun und sind, reagieren wir auf das, was wir sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen. „Unsere Existenz beginnt mit dem Sinnenleben und setzt sich in ihm fort, bis zu unserem letzten Atemzug und zu unserem letzten Gedanken“3, schreibt Emanuele Coccia. „Unser Leben braucht das Sinnliche und die Bilder in demselben Maße, wie es Nahrung braucht.“4


Die Bilder, die unsere Existenz in jedem Augenblick unablässig speisen, summieren sich zu unserem Weltwissen. Sie definieren, was eine Blume ist und was ein Haus, was nah ist und was fern, wer uns gegenübersteht und wer wir selbst sind. Wir kennen uns und alles, was uns umgibt, durch Bilder. Hinterfragen tun wir die Bilder, die auf uns einströmen, im Alltag kaum – nur dann, wenn sie in unerwartetem Kontrast zu unserem Weltwissen stehen: wenn sie uns irritieren.


In der Irritation wird die eigene Wahrnehmung fragwürdig. Was wir als Störung empfinden, öffnet jedoch zugleich die Tür zu einer neuen, weiter gefassten Form der Aufmerksamkeit: Wir werden empfänglich nicht nur für das Wahrgenommene, sondern auch dafür, dass und wie wir es wahrnehmen. Indem wir uns selbst in Frage stellen, sind wir offen für neue Antworten.


Als durch und durch sinnengeleitete Wesen fehlt uns die Distanz zur eigenen Wahrnehmung. Wir können nicht „aus unserer Haut“, können unsere höchst individuelle Perspektive und unseren Wahrnehmungsmodus als Mensch nicht verlassen. Aus diesem Grund brauchen wir Kunstwerke, die den allzu oft als selbstverständlich vorausgesetzten Zusammenhang von Bild und Wirklichkeit zerreißen und neu zusammensetzen. Nur so können wir sensibilisiert werden für die Trennung, die zwischen uns als wahrnehmenden Wesen und allem, was uns sichtbar und spürbar umgibt, besteht.


Diese Erfahrung der Trennung, die zum Wesen eines jeden Bildes gehört, wird gesteigert in der Abstraktion. Abgeleitet vom lateinischen Verb abs-trahere, das „auseinander reißen“ oder „trennen“ bedeutet, steht die Abstraktion für das Zerreißen eines bis dahin unhinterfragten Sinnzusammenhangs. Gegenständlichkeit wird allzu leicht mit Sinnhaftigkeit gleichgesetzt: Etwas ergibt einen Sinn, wenn wir es wiedererkennen und benennen können – was unser Weltwissen nicht kategorisieren kann, erscheint uns als „sinnlos“.


Die Einheit von Form, Ding und Sinn geht in der Abstraktion vollends verloren. Das ist kein Verlust, sondern ein Gewinn, denn Trennung ist die Voraussetzung jedweder Erkenntnis. Nur was uns gegenüber lebt und getrennt von uns existiert, kann betrachtet werden. Das trifft auch auf die Selbsterkenntnis zu: Sie ist nur dann möglich, wenn ein Ich in der Lage ist, sich selbst fremd zu werden, wenn es sich als ein Anderer, als ein Gegenüber betrachten kann.


Indem Ulrike Brockmann Fotografien – die scheinbar gegenständlichste aller Kunstformen, weil sie die Wirklichkeit unmittelbar abzubilden scheint – im ursprünglichen Wortsinn „abs- trahiert“, also die Verbindung von Farbe und Gegenstand zerreißt, führt sie eben jene Trennung herbei, die wir brauchen, um zu einer freien Wahrnehmung zu finden. Bilder, die unser Verstand in einem Sekundenbruchteil als „Blume“ oder „Porträt“ klassifiziert und damit bereits wieder aus der aufmerksamen Wahrnehmung entlassen hätte, gestaltet die Künstlerin zu einem offenen Spielfeld von Trennung und Begegnung um, das unsere Aufmerksamkeit wachhält und unsere Sinne fesselt. Die sortierten Farben lösen den ursprünglichen Formzusammenhang des Motivs auf und unterwerfen sich einer willkürlichen Ordnung. Die einheitlichen Querstreifen sind dabei eine vorgängige, grundsätzliche Setzung der Künstlerin und dem nach dieser Vorgabe entwickelten Algorithmus des Computerprogramms geschuldet. Auch vertikale Streifen oder konzentrische Kreise hätten die erforderliche Zerreißung von Farbe und Gegenstand leisten können, doch Ulrike Brockmann bleibt bei der einmal getroffenen Entscheidung. Die Form ist hier Ausdruck einer Freiheit, die nicht zuletzt darin besteht, dass sie sich selbst gewählten Begrenzungen unterwirft.


Die Neusortierung der Farben führt jedoch nicht nur zu Trennung, sondern auch zu neuer Begegnung. Farben stoßen direkt aneinander, die das im ursprünglichen, gegenständlichen Motivzusammenhang nicht getan hätten. Einzelne Farben verändern ihre Wirkung, abhängig von den ihnen nun – nach der Neusortierung – benachbarten Farben. Es entstehen Verbindungen, Berührungen und Einflüsse, die vorher nicht da waren, und diese Einflüsse greifen über das Bild hinaus und auf die Betrachtenden über. Kunstbetrachtung wird so zum intersubjektiven Prozess. Zu Recht betont Emanuele Coccia, ein Bild sei „eine Form, die von einem Subjekt zum anderen fließen kann. […] Aller Einfluss ist eine Frage des Fließens.“5 Wenn wir uns dem Einfluss eines Kunstwerkes aussetzen, treten wir also in Beziehung.


In seiner künstlichen und zugleich künstlerischen Trennung der Farben wird das Bild bei Ulrike Brockmann zur Kontaktmöglichkeit. Das ist keine Kleinigkeit, denn schon der Philosoph Martin Buber konstatierte: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“6 Wir brauchen Beziehungen, Begegnungen und Kontakt, um die Möglichkeiten unserer Existenz voll ausschöpfen zu können. Ein Bild, gerade wenn es uns neu, fremd und irritierend erscheint, ist, wie Emanuele Coccia schreibt, „in der Lage, sich im Angesicht der Seele aufzuhalten“7. Durch diese Begegnung von Angesicht zu Angesicht entsteht ein Kontakt zwischen Bild und Betrachtenden, der mehr ist als bloße Koexistenz: Wenn ein Bild über die Sinne in die Seele der Betrachtenden eindringt, „dann führt es ein fremdes Element ein, öffnet einen Raum“8, so Coccia. Auf diesen Raum sind wir Menschen angewiesen – er ist ein Ort der Freiheit und der Sinnlichkeit und zugleich der Schauplatz verfeinerter Wahrnehmung und Selbsterkenntnis.


Ein Ich werden können wir erst in Beziehung mit einem Du – das heißt in der Berührung mit, aber auch in der Abgrenzung von einem anderen. Beim Betrachten von Kunstwerken werden wir daher nicht nur der Farben und ihrer Wirkung, sondern auch unserer selbst gewahr. Das bedeutet, dass jede Erweiterung unserer Wahrnehmung zugleich eine Erweiterung unserer Ich-Grenzen bedeutet. „Unsere Grenzen sind dort, wo unsere Vorstellungskraft aufhört“9, schreibt Emanuele Coccia. Beim Betrachten der Bilder von Ulrike Brockmann ahnen wir: Unsere Grenzen lassen sich noch unendlich weit hinausschieben, wenn wir Vertrauen in unsere Wahrnehmung entwickeln und uns dem Erspüren von Farbe mit allen Sinnen – bis hin zur Wortlosigkeit – überlassen.


Katja Pourshirazi


1: Marion Poschmann: Kunst der Überschreitung. Poetikvorlesungen, gehalten an der Universität Duisburg-Essen am 20., 21. und 22.04.2015. In: Mondbetrachtung in mondloser Nacht, Suhrkamp 2016, S. 171. 2: Emanuele Coccia: Sinnenleben – Eine Philosophie, Hanser 2020, S. 20.

3: Coccia, 2020, S. 70. 4: Coccia, 2020, S. 13f. 5: Coccia, 2020, S. 112. 6: Martin Buber: Ich und Du, Lambert Schneider, 12. Aufl., 1994, S. 18.

7: Coccia, 2020, S. 78. 8: Coccia, 2020. S. 78. 9: Coccia, 2020, S. 95.